Stockholm (Schweden) – Es ist ein trauriges Jubiläum: Am Samstag, dem 28. September, jährt sich der Untergang der Ostsee-Fähre „Estonia“ zum 30. Mal. Bei der schlimmsten Schiffskatastrophe der Nachkriegszeit in Europa starben 852 Menschen.
Nur 137 Passagiere überlebten die Havarie, vor der Südküste von Finnland. Noch immer wirft die „Estonia“-Katastrophe viele Fragen auf und ist Gegenstand von Verschwörungstheorien.
Aktuell berichtet der Experte Prof. Dr. Marcel Schütz (39), Professor für Organisation und Management an der „Northern Business School“ in Hamburg, dass die „Estonia“ eigentlich nur für Küstenfahrten zugelassen war und nicht für Fahrten über die Ostsee. Anlässlich des 30. Jahrestages erarbeitete er eine Analyse dieses Unglücks. Seine Ergebnisse veröffentlichte jetzt der „Informationsdienst Wissenschaft“ (idw) in einer Pressemitteilung.
Eine verheerende Septembernacht
▶ Die Passagierfähre „Estonia“ (157 Meter) war am Vorabend des 28. Septembers 1994 mit 989 Menschen an Bord in der estnischen Hauptstadt Tallinn in See gestochen, um am nächsten Morgen die schwedische Hauptstadt Stockholm zu erreichen.
Als das Schiff den Hafen verließ, tobte auf der Ostsee ein Sturm, der sich zu einem Orkan entwickelte und die Fähre schwerbeschädigte. Sie lief voll Wasser, bekam Schlagseite und sank in nur einer Stunde. 852 Menschen wurden von der 13 Grad kalten Ostsee verschluckt, darunter rund 500 Schweden und fünf Deutsche.
Abgerissene Bug-Klappe verursachte den Untergang
In einem vielfach kritisierten Untersuchungsbericht kamen die Havarie-Kommissionen aus Estland, Finnland und Schweden 1997 zu dem Schluss, dass das abgerissene Bug-Visier der Fähre den Untergang verursacht hat. Unstrittig ist, dass diese Bug-Klappe auf offener See abriss und dadurch ungehindert Wasser eintreten konnte. Sie war das einzige Schiffsteil, das sofort geborgen wurde.
Laut mehrerer Gutachten hatte die Konstruktion der „Estonia“ der extremen Belastungen während der Fahrt über die Ostsee nicht standgehalten. Zudem war das Bug-Visier nicht für die Wellenkraft des offenen Meeres ausgelegt.
Experte Marcel Schütz gegenüber idw: „Die ,Estonia‘ war gar nicht fürs offene Meer tauglich. Ursprünglich verkehrte sie zwischen Schweden und Finnland als küsten- und inselnahe Fähre.“
Zulassung für küstennahen Einsatz
Und weiter: „Daher wurde auf die Installation eines zusätzlichen Sicherheitsschotten hinter Bug-Visier und Rampe verzichtet. Dieses war nach internationalen Seeregeln bei Meeresüberfahrten erforderlich. Für den landnahen Betrieb galt aber eine Ausnahme davon. Und diese Einschränkung verlor man aus den Augen.“
Nach ihrer Fertigstellung in der Meyer Werft in Papenburg wurde die Fähre zunächst ab Mitte 1980 für den küstennahen Einsatz zugelassen.
Zehn Jahre später wurde die Fähre verkauft, in „Estonia“ umgetauft und nun auch für Fahrten quer über die Ostsee eingesetzt. Dafür war die Passagierfähre offenbar gar nicht geeignet.
Experte Schütz dazu: „Die Schiffszulassung war nicht ganz durchsichtig und auch widersprüchlich.“ Sein Fazit: „Die Estonia‘ ging als Küstenfähre in Betrieb, aber als Meeresfähre unter.“